Neun Monate "Tiefkühlschlaf"

Strodehne (MOZ) (kön) Die etwa 100 Besucher im oberen Saal der Gaststätte Berlin in Strodehne geben noch mehr Wärme ab als der Heißluftofen, um den sich zuerst alle scharen wollen. Die Stühle reichen nicht aus, vom Tresen bis zur Fensterwand und an dieser entlang stehen, lehnen, hocken die Gäste der diesjährigen Ökofilmtour am Donnerstagabend.

Doppelt so viele wie im Vorjahr, wird Ernst-Alfred Müller später sagen, und sich bei allen bedanken, die das nunmehr achte Festival finanzierten und unterstützten und erwähnen, dass Manfred Ladwig, der Autor des Hauptfilms, bereits beim ersten Festival mit einem Streifen über Schmetterlinge dabei war. Doch was treibt so viele an einem milden Frühlingsabend nach Strodehne? Was lässt sie geduldig am Tresen nach einem Bier oder einem Glas Wasser anstehen, an langen Tafeln Platz nehmen und mit den aufgestapelten Tellern und dem bereitgelegten Besteck warten? Sie wollen die Dokumentation "Billige Brötchen - Die Spur der Teiglinge" sehen.

"Ich will wissen, was ich esse", sagt eine Frau aus Strodehne, eine andere ergänzt: "Und was drin ist." Niemand der Befragten will seine Brötchen im Supermarkt kaufen. Berliner sitzen neben Havelbergern, Rathenowern, Rhinowern. Letztere kaufen bei Peter Schulze ihre Brötchen.

"Zwar schwärmen alle von der Qualität der Bäcker", sagt der Handwerksmeister aus Rhinow, kaufen würden sie aber die Brötchen auch woanders. Der Filmautor Manfred Ladwig beschwichtigt: "Jeder von uns hat abends schon mal ein Baguette für den Grill vom Discounter geholt."

Doch wo ist denn nun der Unterschied zwischen Bäckerbrötchen und denen aus dem Supermarktregal? Es nennt sich "Tiefkühltrick" - die Trennung von Herstellung und Backen. Bis zu neun Monate halten Teiglinge demnach "Tiefkühlschlaf", bevor sie fertig gebacken und verkauft werden; das "Herz" einer modernen Industriebäckerei ist nicht der Backofen, sondern ein Tiefkühlturm, wie er beispielsweise in Warschau steht und Rustiko-Brötchen über einen Großhändler in Berlin nach Wiesbaden liefert.

Erfinder dieses "Prebake-Konzepts" ist die Harry-Brot GmbH bei Hamburg. Harry beliefert sämtliche Supermarktketten in Deutschland; mit erkennbarer abgepackter Tiefkühlware und nicht erkennbarer an den Backstationen, er wirbt mit "höchstem Niveau" und externen Zertifizierungen. "Es ist nicht möglich, solche Brötchen auf herkömmliche Art herzustellen", sagt Bäckermeister Thonke, und ergänzt ein wenig verzweifelt, dass er es schon des Öfteren probiert habe. Gerade gehe es um ein Brot, das sich in Berlin gut verkaufe - aber er könne es nicht nachbacken.

Der Film zeigt, weshalb das so ist und besucht die Firma Mühlenchemie GmbH & Co. KG Hamburg. Sie wirbt für Mehlverbesserung. Beispielsweise dadurch, dass in der dänischen Aktiengesellschaft Novozymes aus Pilz- oder Bakterienkulturen Enzyme werden, die - dem Mehl zugesetzt - dessen Eigenschaften verändern: Feuchtigkeit, Teiggängigkeit, Volumen. Es wird länger haltbar und elastischer - was im Film demonstriert wird mit einem acht Wochen alten Brot, aus dem eine Scheibe geschnitten wird, die sich wie Gummi biegen lässt, ohne zu zerbrechen. Gelächter im Saal. Wer braucht so etwas? Und wer will so etwas essen?

Die fünf bis zwanzig Enzyme, die dem jeweiligen Mehl zugegeben werden, sollen beim Backvorgang zerfallen. Sicher ist nur, dass man im Nachhinein nicht analysieren kann (oder will?), welche Enzyme verwendet worden sind - und alle, die auf "Teiglinge" allergisch reagieren, nicht wissen, welcher Stoff das ausgelöst hat.

Das Max-Rubner-Institut in Karlsruhe ist eine Bundesoberbehörde, dessen Forschungsschwerpunkt im gesundheitlichen Verbraucherschutz im Ernährungsbereich liegen soll. Kein Bäcker kann auf herkömmliche Weise zwanzig verschiedene Brotsorten backen, so der Tenor der befragten Mitarbeiter. Weil das aber der Wunsch des Kunden ist, müsse an Brotbackmischungen und an verbessertem Mehl geforscht werden.

"Wir brauchen keine Fahnen oder Barrikaden", sagt Jürgen Rochlitz am Ende des Abends, "mit unserem Kaufverhalten können wir revolutionär werden."

Enzyme sind übrigens nicht deklarationspflichtig. Der Vermerk "ohne Konservierungsstoffe" ist völlig legal - obwohl die längere Haltbarkeit mittels zugefügter Enzyme und somit mit verändertem Mehl erreicht wurde.

"Je weniger die Leute davon wissen, wie Würste und Gesetze gemacht werden, desto besser schlafen sie" - das sagte Otto von Bismarck, und das scheint das Motto der Lebensmittelindustrie und ihrer Aufsichtsbehörden zu sein.

Und aus welchem Mehl backt Peter Schulze seine Brötchen? Er kauft es in zwei Mühlen (Brandenburg und Altmark) und vertraut den Müllern, die das Korn von Bauern der Region erhalten. Im Saal regt sich Widerspruch, der Ruf nach Biomehl und Zertifikaten wird laut geäußert. Bäckermeister Schulze bleibt dabei: "Ich muss mich darauf verlassen können, was die Müller mir sagen." Einige nicken.

Inzwischen ist es halb zehn, der vegane Käse und die Soja-Gulaschsuppe sind fast alle. Die noch anwesenden knapp sechzig Besucher schauen sich den Kurzfilm über den Bäckermeister Peter Schulze an und anschließend noch einen Animationsstreifen über den Wahn der Leistungsgesellschaft, produziert von Studenten der Hochschule für Film und Fernsehen Potsdam.

Ein Händedruck, eine Umarmung, eine Spende für die Ökofilmtour, die Suppe, den Käse - und ein letzter Griff in den Brötchenkorb. Die "Ostbrötchen" aus Rhinow schmecken einfach gut.